02.09.2019 |

Äthiopien – die Kinder von der Straße

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„Ich dachte, ich würde für immer auf der Straße leben“, sagt der zehnjährige Abi. „Alles, was ich wollte, war zur Schule zu gehen und mir keine Sorgen zu machen um Geld für Essen oder ob ich nachts sicher schlafen würde.“

Abi hatte erlebt, wie seine große Schwester die Schule verließ und mit 13 in eine andere Stadt zog, um als Hausangestellte für ihre Familie zu verdienen. Seine Mutter kam oft mit leeren Händen nach Hause, nachdem sie den ganzen Tag vergeblich nach Arbeit gesucht hatte. Oft standen ihr Tränen in den Augen, wenn sie zuhause kein Essen kochen konnte.

Mit acht begann Abi selbst, Geld für Essen zu verdienen. „Ich hatte Freunde, die für ihr Essen arbeiteten. Sie sammelten Wasserflaschen und verkauften sie“, erzählt er. „Ich begann, dasselbe zu tun.“ Wenn er zwanzig Wasserflaschen gesammelt hatte, verkaufte er sie für 10 Birr (30 Cent). „Ich kaufte dann Essen für die Familie und Kaffeebohnen für meine Mutter.“

„Meistens blieb ich draußen“

Abis Schule litt darunter. Er ging gern in den Unterricht und der Schulbesuch war kostenlos. Aber ihm fehlte das Geld für die Schulsachen. Es gab auch kein Essen, das er für die Pausen mitnehmen konnte. Als die Familie ihr Zuhause verlassen musste, beschloss seine Mutter, zurück in ihr Dorf zu gehen. Abi weigerte sich mitzukommen. Und so landete er auf der Straße.

„Abis Entscheidung, in der Stadt zu bleiben, brach mir das Herz“, erzählt seine Mutter Birke. „Ich kam oft zu ihm zurück, um zu sehen, wie er auf der Straße überlebt.“ Abi suchte weiter Flaschen, die er verkaufen konnte. Am Abend ging er zu seinem Platz: Eine Veranda, die er mit seinen Freunden teilte. Die Kälte, das Heulen der Tiere und die Gefahren der Nacht gaben wenig Grund zu Hoffnung.

Auch Teku kannte nur Mangel: Mangel an Essen, an Schulsachen und Kleidung. Seine Mutter Kuri versuchte alles, um allein ihre sechs Kinder großzuziehen. Als die begannen, eigene Wege zu gehen, fehlte ihr die Kraft dagegen anzugehen. Also verlangte sie nur, dass sie das, was sie fanden, mit denen teilten, die zu Hause blieben.

Und auch Teku sammelte auf den Straßen Plastikflaschen und verkaufte sie. „Dafür kaufte ich Essen. Weil meine Mutter es sich nicht leisten konnte, mich zur Schule zu schicken, verbrachte ich meine Tage mit Arbeit.“ Er arbeitete hart, um selbst essen zu können und ein oder zwei Injera-Fladenbrote mit nach Hause zu bringen. „Wenn mir das nicht gelang, blieb ich entweder draußen oder bei meinem Bruder, der Friseur war. Meistens blieb ich draußen.“ Ein Ladenbesitzer riet ihm, etwas Geld zu sparen. Also legte er täglich etwas in ein Kästchen, das er bei dem Ladenbesitzer ließ. Er wollte nicht, dass seine Mutter oder Geschwister davon wussten.

Yohanis ist sieben und ein lebhafter Junge. Es war einfach, ihn zu finden: Entweder saß er am Straßenrand und bat Leute um Geld oder er wanderte herum und suchte nach Flaschen zum Verkaufen. Auch er kaufte dafür Essen für sich selbst und für seine Mutter und seine Geschwister. „Ich konnte ihn nicht davon abhalten, auf die Straße zu gehen“, sagt seine Mutter Kebe. „Wenn ich ihn nicht ernähren kann, wie kann ich ihm da sagen, dass er zuhause bleiben soll? Ich erziehe allein drei Kinder.“

Auch für Yohanis ging es darum, jeden Tag zu überleben. „Manchmal schlief ich mit meinen Freunden auf der Straße. Wir schliefen auf Kartons und teilten uns Handtücher. Manchmal kam meine Mutter und suchte nach mir. Aber meistens kümmerte es niemanden.“ Kebe, Yohanis‘ Mutter, ist Tagelöhnerin. „Keine Mutter will sehen, wie ihre Kinder auf der Straße landen“, sagt sie verzweifelt. „Ich arbeite, wann immer ich Arbeit finde, aber das Geld, das ich verdiene, hält nicht lange. Wenn meine Kinder Väter hätten, die sie unterstützen, hätten sie nicht gearbeitet oder gebettelt.“

Ein unerwarteter Segen

Es sprach sich schnell herum, als die Emmanuel United Church begann, Familien zu besuchen, die unter extremer Armut litten. Sie luden sie ein, ihre Kinder in ihr neues Compassion-Kinderzentrum aufzunehmen. Auch Yohanis, Teku und Abi (Foto: von li. nach re.) gehörten zu den Auserwählten. „Wir wollten die Kinder von der Straße zurückholen in ihr Zuhause“, sagt Herr Sena, einer der Mitarbeiter des Kinderzentrums. Weil die Jungen bislang für Essen arbeiten mussten, sorgte das Zentrum dafür, dass sie fortan drei Mahlzeiten erhielten. Um ihnen zu helfen, die Straße zu verlassen, nahmen sich die Mitarbeiter viel Zeit für sie. Ein Weg dafür war ein Fußballteam, das sie gründeten. „Die Veränderung, die wir bei den Jungen sahen, hat uns ermutigt. Ihre Lust auf Schule und ihre Beteiligung am Unterricht zeigten, wie sehr sie das Verlorene aufholen wollten.“

Auch die Mütter der Jungen wurden beraten und von den Mitarbeitern ermutigt. Dass die Kosten für die Schulsachen von Compassion übernommen wurden, entlastete sie. Und die neue Kleidung, Schuhe und Hygieneartikel erschienen den Jungen bislang als Luxus. Abi, Teku und Yohanis lernen nun, Träume für die Zukunft zu formulieren statt zu überlegen, wieviel Geld sie bis zum Abend verdienen. Und sie dürfen wieder Kinder sein.

„Ich weiß jetzt, dass ich meine Träume nur verwirklichen kann, solange ich an Gott glaube und von ihm abhängig bin und nicht von mir selbst“, sagt Abi. „Ich verlasse mich auf ihn, weil er ein großer Gott ist.“

Tigist Gizachew, Compassion Äthiopien