Ein Kind kommt zur Welt – warum das etwas Besonderes ist

Als im letzten Jahr der Sohn unserer Freunde seine bezaubernde Verlobte heiratete, hörten die Eltern von verschiedenen Seiten die nett gemeinte Frage: “Na – freut ihr euch schon auf das erste Enkelchen?“ Sie haben dann meistens mit den Achseln gezuckt und gesagt, dass sie das den frisch Verheirateten überlassen und sich auf alle Fälle hüten würden, auf die beiden irgendeinen Druck auszuüben. 

alt="Manfred Siebald Weihnachts-Andacht Compassion Deutschland

Aber die Frage nach der Vorfreude auf ein Kind ist ja heutzutage für junge Paare aus ganz anderen Gründen problematisch. Immer wieder hört man die Formulierung: Darf man heute überhaupt noch Kinder in die Welt setzen? In eine Welt, in welcher bereits 440 Millionen Kinder in Konfliktregionen wohnen; eine Welt, in welcher große Länder kleinere überfallen und in welcher nicht alle Russen, aber eine totalitäre russische Regierung die Ukraine zu besetzen versucht, um sie sich einzuverleiben – inclusive brutaler Gewalttätigkeiten und Kriegsverbrechen? In welcher Kindermord ein Mittel zum Machterhalt ist und in welcher zahllose Familien ins Exil getrieben werden? In welcher Menschen, die die Wahrheit sagen, von den Mächtigen kaltgestellt und kaltgemacht werden?  

Was kann ich dazu sagen? Das sind sehr verständliche Fragen – auch wenn ich aus ganz persönlichen Gründen eine andere Antwort habe als manche jungen Paare heute. Ich bin einfach unendlich dankbar, dass meine Eltern drei Jahre nach dem Ende des entsetzlichen Zweiten Weltkriegs den Mut und die Zuversicht hatten, einen kleinen Manfred in die Welt zu setzen.

Und was sagt Gott dazu? Ich kann mir vorstellen, dass Gott “Ja“ sagt: Genau das, wovor ihr euch scheut, hab ich selbst an Weihnachten getan. Die Welt, in die ich meinen Sohn geschickt habe, war äußerlich im Besatzungszustand, und innerlich wurde sie von einer populistischen und opportunistischen Leitungsclique dominiert. Partisanengruppen mischten den nationalen Frieden immer wieder auf, und wer die Wahrheit sagte, brauchte ein ziemlich schnelles Pferd. Ich wollte, dass mein Sohn in genau dieser Welt wohnte. Ich wollte in diesem Neugeborenen in dieser Welt unter meinen geliebten Menschen leben und ihnen die Chance geben, zu mir zurückzukommen.

Wenn Gott sein eigenes Kind in eine Welt schickte, die unserem kriegsgebeutelten Planeten in vielerlei Beziehung ähnelte, sollte das unseren Blick auf Kinder ändern. Kinder sind – egal, von wem und unter welchen Umständen gezeugt und geboren – von Gott auf diese Erde gesandt. Die Geburt des kleinen strampelnden Säuglings Jesus, über die wir uns an Weihnachten so freuen, ist nicht nur das größte Wunder der Weltgeschichte – nein, sie kann auch unsere ganze Sicht auf Kinder verwandeln. Sie hindert uns daran, in ihnen etwas anderes zu sehen als Gottes gewollte Geschöpfe – für die die große Menschenfamilie und ganz besonders die Familie der Christen Verantwortung übernehmen sollen.

Und das bringt mich als Mitglied der Compassion-Familie in der Weihnachtszeit noch zu einem anderen Gedanken. Wir denken an Weihnachten eigentlich zuerst nur an das süße Kind in der Krippe, an den holden Knaben mit lockigem Haar. Aber was geschah eigentlich hinterher – in den Kinderjahren bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir im Lukas-Evangelium vom 12-jährigen Jesus im Tempel lesen? In seinem neuesten Buch Wie weit ist es nach Bethlehem?* hat Hans-Joachim Eckstein genau diese Frage gestellt: “Wer brachte dem Messias das Laufen bei?“ Er schreibt: 

“Wer lehrte Jesus die Sprache, in der er später so schön und verständlich und gewinnend das Evangelium von der Nähe der Gottesherrschaft verkündigte?  

Wer brachte dem Jesuskind wohl einst das Laufen bei, das dann in der Vollmacht des Sohnes Gottes über das Wasser des stürmisch aufgewühlten Meeres ging? Hat doch Wasser bekanntlich selbst für einen gelernten Zimmermann keine Balken! 

Wer schulte die jungen Hände zu greifen und zu halten, zu fühlen und zu gestalten, mit denen der Heiland das Brot brach und verteilte, die Kinder segnete und herzte, die Kranken heilte und die Verzweifelten tröstete, bis man sie dann aus Hass und Missgunst ans Kreuz nagelte? 

War es nicht neben der Mutter Jesu vor allem Josef, der Zimmermann von Nazareth in Galiläa aus dem Geschlecht Davids, der Jesus als seinen Sohn annahm und in den Lebensalltag dieser Welt einführte? Er hatte Mutter und Kind in Bethlehem umsorgt, vor der tödlichen Bedrohung nach Ägypten gerettet und nach der Rückkehr in Nazareth mit seiner Hände Arbeit ernährt und behütet.“ 

Josef machte es uns vor: Er kümmerte sich um ein Kind, das nicht sein eigenes war und förderte es bis zum Optimum seiner Möglichkeiten. Wenn das nicht genau das Programm von Compassion ist! Deshalb lasst uns weiter dafür beten und arbeiten, dass möglichst viele Menschen in unserem Land zu Josefs werden und die vielen Josefs in den Projekten der Partnerländer unterstützen – die Erzieher, die Betreuer, die Versorger, die Kindern mitten in einer kriegerischen Welt ein möglichst behütetes Zuhause geben, sie lebenstüchtig machen und ihre Gaben so fördern, dass sie aus Armut geholt und vor Armut bewahrt werden – im Namen Jesu. 

Prof. Dr. Manfred Siebald
Aufsichtsratsmitglied Compassion Deutschland 

 

*Hans-Joachim Eckstein, Wie weit ist es bis Bethlehem? Adventliches Türöffnen und weihnachtliches Wundern (Holzgerlingen: SCM-Verlag, 2022). 

Das könnte dir auch gefallen

Das könnte dir auch gefallen