Sri Lanka in der Krise

Die Wirtschaftskrise trifft Familien in extremer Armut schwer 

Die Entscheidung war gefallen. Weder Thamilselvi noch ihr Mann Vigneswaran waren darüber erfreut. Sie waren der Meinung, dass es die einzige Möglichkeit war, die aktuelle Wirtschaftskrise in Sri Lanka zu überstehen. Thamilselvi und Vigneswaran hatten gehofft, diese Entscheidung niemals treffen zu müssen. 

„Ich muss ins Ausland gehen, um zu arbeiten. Dann bekommen meine Kinder wenigstens drei gute Mahlzeiten am Tag, wenn ich ihnen Geld schicke“, sagt Thamilselvi.

Die anhaltende Krise hat in Sri Lanka jeden getroffen. Die meisten Familien brachten Opfer, um so gut wie möglich zurechtzukommen. Zu Beginn des Jahres blickten sie noch hoffnungsvoll in die Zukunft. Die Zahlen der Covid-19-Fälle gingen stark zurück. Die Maßnahmen gegen Covid-19 wurden gelockert und Normalität kehrte zurück.  

Das änderte sich schnell, als bekannt wurde, dass die Devisenreserven Sri Lankas auf ein Niveau gesunken waren. Es war unmöglich, weiterhin Waren des täglichen Bedarfs einzuführen, geschweige denn die wachsenden Schulden des Landes zu begleichen. Die tatsächlichen Auswirkungen erkannten viele erst im März 2022, als Sri Lanka mit der Rückzahlung internationaler Kredite in Verzug geriet.  

Da die Devisen nicht mehr ausreichten, kam es im Land zu Engpässen bei lebensnotwendigen Gütern wie Treibstoff. Das führte dazu, dass die Stromversorgung täglich unterbrochen werden musste. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Kochgas, Milchpulver und Medikamente stiegen steil an – die Inflationsrate lag im Juli 2022 bei 60,8 Prozent.  

Tausende Menschen waren gezwungen, in langen Warteschlangen zu stehen, nur um Grundnahrungsmittel einschließlich Kraftstoff zu kaufen. Auch Familien aus der Mittelschicht bekamen die Auswirkungen der Krise zu spüren und gerieten ins Straucheln. Für Familien, die bereits in Armut lebten wie Thamilselvi und ihre Familie, war die Situation eine Katastrophe. 

alt="Sri Lanka Thamilselvi mit Bruder Geschichte Lebensmittelknappheit Compassion Deutschland"

Eine lange Wartezeit  

Vigneswaran ist Tuk-Tuk-Fahrer. Vor der Wirtschaftskrise verdiente er rund 8 Dollar am Tag. Damit konnte er Rechnungen und Lebensmittel bezahlen. Doch mit den stark ansteigenden Preisen wurde das immer schwieriger. Aufgrund der Treibstoffknappheit im Land hatte die Familie kein regelmäßiges Einkommen mehr und hatte Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen. 

Einmal wartete Vigneswaran 15 Tage in einer Warteschlange, um Treibstoff zu bekommen. Nur um einen Tag damit fahren zu können. Dann musste er sich wieder an das Ende der Warteschlange stellen.   

Sein einziges Einkommen, das er für seine Familie aufbringen konnte, ging verloren und dann war da noch das Sicherheitsrisiko. „Jedes Mal, wenn er in der Warteschlange steht, fühle ich mich unwohl“, sagt Thamilselvi. „Es belastet mich sehr zu wissen, dass er da draußen ist.“  

Vigneswaran sitzt den ganzen Tag und die ganze Nacht in seinem Tuk-Tuk, um seinen Platz in der Warteschlange zu behalten. Die Nächte sind am schlimmsten. Mit zwei beleuchteten Moskitospulen, um die Mücken fernzuhalten, klettert Vigneswaran auf den Rücksitz seines Tuk-Tuks und versucht, es sich bequem zu machen – aber nicht so bequem, dass er einschläft. 

„Du kannst deine Augen nicht einmal für eine Minute schließen“, sagt er. „Wenn du das tust, stiehlt jemand deinen Akku, dein Telefon, einen Spiegel oder etwas anderes aus deinem Tuk-Tuk. Ich muss also immer wachsam sein.“ 

Tagsüber kommt sein älterer Sohn Harigaran zu Besuch. Er fährt mit dem Fahrrad und bringt Lebensmittel vorbei. Er bleibt sogar für ein paar Stunden im Tuk-Tuk, während sein Vater nach Hause fährt, um sich auszuruhen. Aber nur tagsüber, wenn es sicher ist. 

alt="Sri Lanka Thamilselvis Papa Geschichte Lebensmittelknappheit Compassion Deutschland"

Eine fürsorgliche Intervention 

Es ist nicht einfach, Lösungen für diese Krise zu finden. Compassion Sri Lanka arbeitet intensiv daran, die Familien nachhaltig und langfristig zu unterstützen.  

Die zwei jüngeren Söhne, Vishal (5) und Vengadeshwaram (4), nehmen am Patenschaftsprogramm von Compassion teil. Für die Eltern ist es ein Geschenk, dass ihre Söhne das Kinderzentrum besuchen können. Inmitten der Krise unterstützt Compassion die Familie mit Lebensmitteln. Wann immer die Jungs im Kinderzentrum sind, bekommen sie eine gesunde Mahlzeit.  

Die Lebensmittelunsicherheit ist ein wachsendes Problem im Land. Anyanka, eine Compassion-Mitarbeiterin aus Sri Lanka, erzählt: „Mangelernährung nimmt zu. Wir sehen, dass die Zahlen von Mangelernährung steigen und beobachten, dass Eltern nur ein oder zwei Mahlzeiten am Tag haben. Wenn stillende Mütter nicht ausreichend mit Mahlzeiten versorgt sind, fehlen ihnen wichtige Nährstoffe.“ 

Thamilselvis Söhne verstehen nicht, warum sie weniger zu essen haben. Sie fragen ihre Mutter immer wieder: „Warum können wir kein Hähnchen essen? Warum gibt es keine Milch in meinem Tee? Warum kann ich keinen Keks haben?“ Meistens hat Thamilselvi keine Antwort auf ihre Fragen. Viele Lebensmittel sind zu einem Luxusgut geworden, das sie sich nicht leisten können. „Sie fragen mich manchmal nach Dingen, die ich ihnen nicht geben kann. Das ist sehr schwer für mich“, so Thamilselvi. „Ich möchte ihnen geben, was sie wollen. Aber ich kann ihnen meine Sorgen nicht zeigen.“  

Eine wachsende Sorge

Im September 2022 erklärten die Vereinten Nationen, dass mehr als 60 Prozent der Familien in Sri Lanka weniger und billigere Lebensmittel zu sich nehmen, die meist weniger Nährstoffe beinhalten.i  

Das Welternährungsprogramm gab in einem Bericht an, dass 6,26 Millionen Menschen in Sri Lanka nicht genug zu essen haben. ii 

Im April 2022 führte Compassion einen Krisenreaktionsplan ein. Darunter fiel auch die Verteilung von Lebensmittelpaketen an die Familien der Patenkinder.  

„Wir haben Lebensmittelpakete für alle Familien und auch für die Mitarbeiter des Kinderzentrums angefordert. Wir haben von vielen Familien gehört, dass sie dankbar dafür sind. Die Pakete enthielten Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel“, erklärt Ayanka. „Als die Familien im April in die Feiertage zum sri-lankischen Neujahrsfest gingen, hatten sie zu Hause etwas zu essen. Sie konnten ihre Familien versorgen. Für die Tagelöhner gab es kaum Arbeit und die Menschen mussten nach Hause zurückkehren, aber sie hatten Essen auf dem Tisch. Wir unterstützen die Familien, die kaum etwas zu essen haben, einen niedrigen BMI aufweisen und die unterernährt sind.“ Compassion Sri Lanka unterstützt die lokalen Partner vor Ort, damit diese sich um die Kinder und deren Familien kümmern können. „Die Familien haben keine finanziellen Rücklagen. In dieser Zeit haben viele von ihnen große Ängste“, so Ayanka. 

alt="Sri Lanka Thamilselvi mit Bruder Geschichte Lebensmittelknappheit Compassion Deutschland"

Ein Plan in der Krise 

Im September 2022 erklärten die Vereinten Nationen, dass mehr als 60 Prozent der Familien in Sri Lanka weniger und billigere Lebensmittel zu sich nehmen, die meist weniger Nährstoffe beinhalten.i  

Das Welternährungsprogramm gab in einem Bericht an, dass 6,26 Millionen Menschen in Sri Lanka nicht genug zu essen haben. ii 

Im April 2022 führte Compassion einen Krisenreaktionsplan ein. Darunter fiel auch die Verteilung von Lebensmittelpaketen an die Familien der Patenkinder.  

Compassion konzentriert sich nicht nur auf die physischen Bedürfnisse, sondern befasst sich auch mit den mentalen, sozialen und emotionalen Belangen der Kinder und Familien.

„Wir müssen Familien nachhaltig unterstützen, damit sie diese Zeit überstehen und sie gestärkt aus ihr hervorgehen. Das ist unsere Hoffnung“

, sagt Ayanka. 

Die Auswirkungen der Pandemie sind weiterhin spürbar. Sri Lanka steht nun vor einer neuen Herausforderung, die nach Ansicht vieler Experten noch bedrohlicher ist als die Covid-19-Pandemie. 

„Von vielen haben wir gehört, dass Compassion ihnen während der Pandemie zur Seite stand, als es sonst niemand tat”, so Ayanka. „Das gab ihnen die Zuversicht, dass wir auch in dieser Wirtschaftskrise an ihrer Seite sein werden.” 

Die Mädchen und Jungen, die am Patenschaftsprogramm teilnehmen, werden weiterhin zu Hause besucht. Die Mitarbeiter der Kinderzentren wollen den Familien versichern, dass sie mit der Unterstützung von Compassion in der aktuellen Situation rechnen dürfen.  

„Da es keinen Lockdown mehr gibt, möchten die Mitarbeiter der Kinderzentren die Kinder besuchen“, sagt Ayanka. „Die Treibstoffknappheit und die damit verbundenen Transportprobleme führen dazu, dass die Mitarbeiter jetzt überall hinlaufen müssen. Das kostet Zeit und Mühe.“ 

Ayanka gibt zu bedenken, dass all das auch psychische Auswirkungen auf diejenigen hat, die sich um andere kümmern. „Die Mitarbeiter sehen, wie andere leiden. Ihre eigenen Familien haben auch oft zu kämpfen. Sie können häufig nicht mehr den Lebensstil führen, den sie gewohnt sind. Das hat Auswirkungen auf die mentale Gesundheit. Obwohl es eine Wirtschaftskrise ist, wirkt sie sich auf jeden Bereich des Lebens aus.  

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Sofortige Unterstützung und langfristige Förderung 

Familien in Armut sind am stärksten von den steigenden Preisen und der Lebensmittelknappheit betroffen. In Krisenzeiten wird ihre Not immer größer. 

Deshalb haben Ayanka und das Compassion-Team nach einkommensfördernden Maßnahmen gesucht. „Wir haben die Familien ermutigt, sich mit Gartenarbeit zu beschäftigen. Das hat den Familien bereits geholfen“, so Ayanka. „Vor allem in den ländlichen Gebieten können die Menschen Obst und Gemüse anpflanzen und haben so eine Grundausstattung, mit der sie sich versorgen können. Was ihnen fehlt, sind meist die Artikel wie Seife, Medizin oder andere Dinge des täglichen Bedarfs.“  

Die Familien, die noch ein kleines Einkommen haben, werden von den Compassion-Mitarbeitern ermutigt, ihre finanziellen Mittel weise einzusetzen. Ayanka riet Familien, die Land oder Tiere besitzen oder erwerbstätig sind, diese Einnahmequellen auszubauen, damit sie nicht nur genug für sich selbst, sondern auch etwas zum Verkauf haben. 

Jugendliche, die am Compassion-Patenschaftsprogramm teilnehmen, nehmen Tagesjobs an, um ihre Familien zu unterstützen. Sie helfen in Bäckereien, Geschäften und auf Baustellen aus. Compassion sucht nach Möglichkeiten, die Jugendlichen zu unterstützen, damit die Jobs nicht bei der Schul- oder Ausbildung im Wege stehen.  

Ayanka und das Compassion-Team überdenken nun die Herangehensweise, wie sie die Jugendlichen begleiten und fördern können. „Wir ermutigen die jungen Menschen, dass es eine Gelegenheit für sie ist, ihre Familie zu unterstützen. Sie sollen aber nicht ihre Träume aufgeben”, sagte sie. „Es geht nicht darum, dass die Jugendlichen etwas verdienen sollen und ihre Ausbildung vergessen oder es nur um die Ausbildung geht und sie vergessen, Geld zu verdienen. Es geht darum, ihre Ausbildung fortzusetzen und gleichzeitig ihre Familien zu unterstützen.“ 

Eins ist klar: Diese Krise wird nicht sofort verschwinden. Die Engpässe werden anhalten und die Preise werden nicht so bald sinken. Anhand von Erhebungen vor Ort lässt sich feststellen, ob die Mitarbeiter, Kinder und Familien in der Lage sind, sich mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen.

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Eine hoffnungsvolle Mutter 

Die Mitarbeiter des Compassion-Kinderzentrums sind fest entschlossen, alle Kinder, die am Patenschaftsprogramm teilnehmen und ihre Familien zu unterstützen. Auch die Familie von Thamilselvi.  

Thanuja, die Leiterin des Kinderzentrums, ist besorgt über Thamilselvis Vorhaben im Ausland zu arbeiten und ihre Söhne zurückzulassen. „Wir wollen nicht, dass Thamilselvi ihre Familie verlässt, aber es ist ihre Entscheidung. Wir werden immer auf ihre Kinder aufpassen und dafür sorgen, dass sie gut versorgt sind”, sagt Thanuja. 

Während Thamilselvi sich darauf vorbereitet, sich für eine Weile von ihren Kindern zu verabschieden, weiß sie, dass schwierigere Tage auf sie zukommen. Sie bleibt hoffnungsvoll: „Auch wenn es so viele Herausforderungen gibt, habe ich Hoffnung”, sagt sie.

„In meinem Herzen habe ich Hoffnung.“

Ich weiß, dass nach all dem etwas Gutes kommen wird. Wir können nicht einfach sagen, dass es schwierig ist und aufgeben. Wir müssen uns der Herausforderung stellen. 

📷 Bericht und Fotos: Odessa B., Compassion Sri Lanka 

i World Food Programme, Food crisis in Sri Lanka likely to worsen amid poor agricultural productionprice spikes and ongoing economic crisis, FAO and WFP warn, in wfp.org, https://www.wfp.org/news/food-crisis-sri-lanka-likely-worsen-amid-poor-agricultural-production-price-spikes-and-ongoing, letzter Zugriff: 20.12.22 

ii https://news.un.org/en/story/2022/07/1122042  

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